Weihnachtsgeschichten
Schöne Weihnachtsgeschichte
Wie sollte sie einer Person etwas schenken, die sie in drei Jahren nie richtig kennen gelernt hatte? Der alljährliche Parfümgutschein wurde langsam zur Aussage. Hanna stieß die Tür der überfüllten Parfümerie auf und marschierte zielstrebig zur Kasse. Sie kannte das Prozedere. Karte aussuchen. Geldschein auf die Kasse legen. Warten. Karte mitnehmen. Das Weihnachtsgeschenk für ihre schreckliche Schwiegermutter hatte sie damit in der Tasche. Was sollte es schon – an Parfümgutscheine war die Mittfüngzigerin bereits gewohnt.
Kaum war sie aus der Parfümerie verschwunden, entwich ihr alle Kraft wie einem Ballon die Luft. Sie ließ sich draußen auf eine leere Bank fallen; die Feuchtigkeit durchnässte ihre Jeans. Die Luft war kalt. Bitterkalt.
Der Mann war alt, aber nicht so alt, wie er aussah. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und streckte die Hand aus, bittend, aber bestimmt. Niemand beachtete ihn, Weihnachtsgeschenke waren wichtiger. Geschenke für Menschen, mit denen man sonst das ganze Jahr nichts zu tun hatte, die man gar nicht leiden konnte. Es war bereits der Morgen des 24. Dezember; Geschenke, die auf den letzten Drücker gekauft wurden, in Eile, da man früher nicht daran gedacht, sich nicht genug interessiert hatte. „Hi, ich bin Hanna. Und Sie?“, rief sie ihm durch die Menschenmenge zu. Er hob den Blick, schien Hanna im ersten Augenblick gar nicht ernst zu nehmen.
„Marco. Mein Name ist Marco“, antwortete er. Hanna stand auf, die kritischen Blicke der Passanten waren ihr egal. Sie kniete sich neben ihn. „Es ist Weihnachten und ich habe überhaupt keine Lust darauf“, setzte sie an. „Man kriegt Geschenke, die man nicht will. Macht welche, die man sich nicht leisten kann. Ich würde mir das gerne alles sparen und etwas wirklich Gutes tun.“ Sie holte einen 10€-Schein aus ihrem Portemonnaie. „Für Sie“, sagte sie und drückte ihm den Geldschein in die Hand. „Ich glaube, da ist er gut investiert.“
Marco lächelte matt. „Behalte ihn, Mädel. Kauf dir was Schönes. Du scheinst es zu brauchen.“ Ein Weihnachtsgeschenk für sich selbst… wieso nicht? Immerhin musste Hanna gleich die Familie ihres Freundes ertragen. Die Familie, die sowieso schon ahnte, dass die Beziehung nicht mehr lange halten würde – womit sie auch Recht hatten. Ihr kam eine ganz andere Idee.
„Marco, wo feiern Sie… wo feierst du Heiligabend?“, wollte sie wissen. „Ich? Heiligabend feiern?“ „Was hältst du davon: Du kommst mit zu mir. Wenigstens einen Tag, bis morgen. Nur, wenn du willst natürlich…“ Die Idee war nicht ganz uneigennützig. Vielleicht würden diese Menschen endlich sehen, dass Weihnachten nicht das Fest der teuren Geschenke war, sondern einen viel tieferen Sinn hatte. Nächstenliebe. Die Gelegenheit wahrnehmen, etwas zu verändern, wenn auch nur für einen Abend. „Aber das macht doch nur Umstände“, entgegnete Marco. „Nein, nein. Komm, es ist bitterkalt draußen. Gehen wir.“
„Hanna, das ist bitte nicht dein Ernst“, sagte Christian. „Wir können diesen… Fremden doch nicht mit zu meinen Eltern nehmen. Komm schon, zeig ihm die Tür und dann zieh dich an, wir sind schon spät dran.“ „Doch. Es ist mein voller Ernst. Wenn er nicht mitkommt, bleibe ich auch hier“, sagte sie entschlossen. „Ach, mach doch, was du willst!“ Christian schlug die Tür hinter sich zu. Sie hätte es wissen müssen. Seine piekfeine Familie, einen Bettler aufnehmen? Niemals.
Der Blick in den Kühlschrank war ernüchternd. Bockwürstchen und Kartoffelsalat, nur für den Notfall – der jetzt wohl eingetreten war. Hanna machte sich daran, die Bockwürstchen zu erwärmen; sie hörte im Hintergrund Marcos Schritte, wie er sich die gemeinsame Wohnung ansah. War ihre Entscheidung richtig gewesen, ihn mitzunehmen? Er könnte sonstwer sein, sie kannte ihn nicht – doch wer auch immer er war, ohne sie läge er jetzt auf irgendeiner kalten, nassen Parkbank und würde womöglich erfrieren.
„Es ist nicht viel, aber…“, sagte sie und verteilte das Essen auf zwei Teller. „Es ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte“, erwiderte Marco und setzte sich. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Ich habe sie mal auf der Straße aufgeschnappt, sie könnte dir gefallen.“
Geschichten. Hanna hatte keine Geschichten mehr an Weihnachten erzählt bekommen, seitdem sie ein kleines Mädchen war. Sie nickte grinsend.
„Es war einmal ein wohlhabender Mann, der eine große Familie hatte, dann aber schwer krank wurde. Niemand kümmerte sich um ihn, er wurde in die Krankenhäuser abgeschoben und wusste, dass er nicht mehr lange hatte. Seine Familie hatte sein Geld nicht verdient, denn sie interessieren sich nicht für ihn. Er wollte es jemandem hinterlassen, der es gut gebrauchen konnte. Deswegen mischte er sich an Weihnachten unter die Bettler und hielt die Augen offen nach einem Menschen, der es wirklich verdiente. Und den fand er auch; jemand lud ihn unverhofft ein, mit ihm und seiner Familie zu essen. Dieser jemand hatte selbst nicht viel Geld, aber umso mehr Sorgen – doch es war Weihnachten und Zeit, eine gute Tat zu vollbringen. In der Nacht schlich er sich davon, und am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages fand die Familie nur noch seinen Abschiedsbrief, zusammen mit all seinem Geld.“ „Was ist aus ihnen geworden?“, wollte Hanna wissen. „Kind, das weiß ich doch nicht“, lachte er. „Ich habe die Geschichte nur aufgeschnappt, nicht selbst erfunden!“
Hanna hatte verschlafen. Sie musste Kaffee kochen, Frühstück machen. Wer wusste schon, wie lange Marco das nicht mehr bekommen hatte? Noch war es Weihnachten, noch wollte sie ihm eine Freude machen, bevor er wieder ging. Sie tappte in die Küche, doch irgendetwas stimmte nicht. Die Couch war leer, die Decke ordentlich zusammengelegt.
Er war verschwunden. „Marco?“, rief sie. Keine Antwort. Er war tatsächlich weg.
Hanna ging ins Wohnzimmer und sah, dass auf der Bettdecke ein Umschlag lag. Er war dick und weiß. Noch war sie zu müde, um sich etwas zu denken, als sie ihn aufhob und spürte, dass er schwer war. Hanna öffnete ihn – und staunte nicht schlecht, als sie mehrere rosa Bündel sah. Geldscheine. Sehr, sehr viele. Sie zog einen Bogen Papier aus dem Umschlag hervor, es war ein Brief. An sie.
„Liebe Hanna“, murmelte sie. „Ich danke dir für das bisschen Nestwärme, das du gestern für mich übrig hattest, obwohl du dir damit selbst Umstände gemacht hast. Erinnerst du dich an die Geschichte, die ich dir gestern erzählt habe? Ich war nicht ganz ehrlich zu dir – sie ist meine eigene. Und du bist dieser ganz besondere Jemand, dem ich mein Vermögen hinterlassen möchte. Ich habe gespürt, wie sehr du Geschichten liebst. Bitte nimm es und schreib deine eigene, und denk ab und zu an mich, wenn ich nicht mehr bin. Marco.“
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