Nikolausgeschichte für Senioren
„Heute großer Nikolaustanzabend. Die Tischnachbarn werden am Eingang verlost. Beginn: 20 Uhr im Salon.“ Werner stand vor dem Plakat auf dem Eventdeck des Kreuzfahrtschiffes, auf dem er sich vor ein paar Tagen eingebucht hatte. Eigentlich wollte er eine Mittelmeerkreuzfahrt unternehmen, aber es war Anfang Dezember und daher schien ihm Südafrika eher geeignet zu sein. Ein Weltenbummler war er schon immer und so er erfüllte er sich einen lang gehegten Jugendtraum. Brigitte war vor drei Jahren gestorben und Werner vermisste sie immer noch sehr. Zu zweit waren sie viel gereist, aber eine Kreuzfahrt wäre nicht Brigittes Sache gewesen, zumal sie ohnehin schnell seekrank wurde.
Das Wetter war herrlich und das Riesenschiff hatte jede Menge Annehmlichkeiten zu bieten. Im Reisebüro hatte man ihm gesagt, dass die Seereise eigens für Senioren, auch ohne Partner, aufgelegt wurde. Obwohl die Reise sehr teuer war, war der Andrang ziemlich groß und Werner hatte nur mit viel Glück noch eine schöne Kabine bekommen. Sein Blick fiel erneut auf das Plakat. „Ach ja, heute ist Nikolaustag“, sinnierte Werner, „ein perfekter Tag für Überraschungen“ und er beschloss nach dem Abendessen dort hinzugehen.
Werner liebte das Meer. Schon als Junge hatte er davon geträumt Kapitän zu werden. Leider ist aus dem Kindertraum nichts geworden. Werner absolvierte ein Ingenieurstudium und verbrachte sein Berufsleben mit der Konstruktion von Maschinen und Anlagen. Nicht, dass ihm das keinen Spaß gemacht hätte, er kam viel herum, aber er vermisste oft die Freiheit der Natur und der Ozeane. In den wenigen Urlaubswochen, die Brigitte und er zur Verfügung hatten, reisten sie in fremde Länder und versuchten möglichst viel von der Welt mitzubekommen. Am Anfang mit den Kindern, später dann als Paar und heute mit seinen 68 Jahren stand er alleine an Deck und bereiste die Meere rund um einen faszinierenden Kontinent.
Die Gäste an Bord waren sehr nett und Werner hatte schon einige Bekanntschaften gemacht. Die meisten durften ungefähr in seinem Alter sein. Man traf sich an der Bar oder man genoss zusammen die herrlichen und üppigen Mahlzeiten. Für alles war gesorgt und Werner begab sich mehr als einmal in die Fitnessabteilung des Riesendampfers, um nicht kugelrund zu werden. Er hatte sich für alle Landausflüge eingebucht. Er war fit und hatte keinerlei Probleme mit langen Fußmärschen. Bis jetzt hatte er seine Entscheidung für diese Reise noch nicht bereut. Oft setzte er sich, bewaffnet mit einem Buch, auf das Sonnendeck und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Kurz vor 20 Uhr stand Werner vor dem Salon. Er war bei weitem nicht alleine. An der Tür stand ein Nikolaus mit einem großen Sack, aus dem jeder ein Los ziehen musste. Die Damen zogen ein rotes, die Herren ein blaues Los. Es ließ sich lustig an, bei diesen Temperaturen einen waschechten Nikolaus zu sehen und Werner war schon gespannt, wer ihm da per Zufall zugeteilt wurde. Alle hatten sich fein herausgeputzt. Die Herren trugen Anzug und die Damen Abendkleider. Werner war an der Reihe. Auf dem Los, das er gezogen hatte, war die Nummer „66“ geschrieben. Wie alle anderen pinnte er sich die Zahl auf das Revier und hielt die Augen offen, um sein weibliches Gegenüber zu entdecken. Werner schaute angestrengt in die Runde und sein Blick blieb an einer Frau mit halblangen, braunen Haaren hängen.
„Sie mochte etwa Ende Fünfzig sein“, mutmaßte er und sie hatte das schönste Lächeln, das Werner jemals gesehen hatte. Nur leider hatte Sie die Nummer „99“ auf ihrem Kleid stecken. „Schade“, dachte Werner und machte sich weiter auf die Suche, ohne fündig zu werden. Nach einiger Zeit hatten alle einen Partner und das Fest begann. Nur zwei Personen blieben übrig. Er und die Dame, die er aus der Ferne bewundert hatte. Sie saß auf einem Barhocker und sah etwas verloren aus. Werner beschloss seine „66“ zu ignorieren. Vielleicht hatte die weibliche „66“ keine Lust mehr und war gegangen. Je näher er der Bar kam, desto besser gefiel ihm die Lady. Weiche Züge umspielten ihren Mund und ihre schönen Augen funkelten. Ohne einen Umweg ging er auf sie zu. „Verzeihen Sie, dass ich einfach so anspreche. Das ist wohl nicht im Sinne des Spiels heute Abend. Doch nachdem wir anscheinend beide keinen Partner abbekommen haben, könnten wir wenigstens zusammen etwas trinken“. Die Frau lächelte ihn dankbar an und beide bestellten sich einen Drink. Es dauerte nicht lange und sie hatten sich so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie die Welt um sich herum vergaßen.
Werner hatte sich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt und Susanne, so hieß seine Eroberung, war eine wirklich charmante Gesprächspartnerin. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt und Werner erfuhr, dass Susanne seit zwei Jahren geschieden war und die Kreuzfahrt von Ihren Kindern für das kommende Weihnachtsfest geschenkt bekommen hat. Sie genoss die Reise ebenso sehr wie er und während des Abends stellten sie mehr und mehr Gemeinsamkeiten fest. Aber das war nicht alles. Die Luft zwischen ihnen fing an zu knistern und Werner spürte, wie er diesem Gefühl nach und nach erlag. Nie hätte er gedacht, dass er in seinem Alter noch einmal so fühlen könnte. Er, der er so abgeklärt zu sein schien. „Nur nicht nachdenken“, ermahnte er sich, „dazu ist alles viel zu aufregend.“ Der Abend ging zu Ende und sie verabredeten sich zum Frühstück. Werner glaubte zu spüren, dass es Susanne ähnlich erging wie ihm. Was für ein Nikolaustag!
In seiner Kajüte entfernte Werner die Nummer von seiner Jacke. Dabei drehte er das Stück Papier. Da lag die „99“ in ihrer ganzen Pracht vor ihm. Werner schüttelte den Kopf: „Warum war er nicht selbst darauf gekommen.“ Er beschloss die Glücksnummer aufzuheben, vielleicht würde er Susanne einmal von seiner Entdeckung erzählen. Der Nikolaus hatte sie von vornherein füreinander bestimmt, er hatte es nur etwas spannender arrangiert. Wie hatte Brigitte immer gesagt: „Was zusammen gehört, das findet sich auch.“ Er schloss verträumt die Augen und dankte allen Weihnachtsmännern dieser Welt, den echten und den unechten, dass sie ihm noch einmal eine so wunderbare Frau bescherten.